„Nur Fliegen ist schöner“ 1 – Stefan Rohrer und der Mythos der Geschwindigkeit
Sebastian Steinhäußer
Die farbenfrohen Skulpturen Stefan Rohrers sind faszinierend und unverwechselbar. Seine Materialien sind Autokarosserien, Motorroller und Modellautos. Teils elegant geschwungen, teils in wilden Wirbeln, greifen seine Arbeiten in den Raum aus. Sie fesseln unseren Blick. Unwillkürlich verfolgen wir die verschlungenen Bahnen, die Rohrers Autos und Zweiräder einschlagen, werden wir in unserer Vorstellung umhergeworfen und durchgeschüttelt wie in einer Achterbahn, dass uns beinahe der Atem stockt.
Arancio von 2011, ein orangefarbener Vespa-Roller, der den Charme der 1970er-Jahre versprüht, ist mit dem Hinterrad noch am Boden verhaftet. Gerät er hier schon in Schieflage, wird das Vorderteil samt Rad und Lenker von einem Strudel erfasst und in die Luft gerissen. Es wirkt, als würde eine unbekannte Macht mit ihm einen Bändertanz aufführen. In der Wandarbeit Commodore von 2013 verschlingen sich zwei Fahrbahnen samt den darauf dahinrasenden Fahrzeugen arabeskenhaft ineinander. Die beiden Modelle weißer Opel Commodore, ausgestattet mit Vinyldach und schwarzen „Rallyestreifen“, den Attributen sportlicher Autos in den 1970er-Jahren, folgen diesen verschlungenen Bahnen in entgegengesetzten Richtungen und werden in die Länge gezogen. Während sich das eine Auto nach vorne hin verjüngt, nimmt das andere augenscheinlich an Masse zu. Eines nähert sich dem Betrachter, während sich das andere von ihm entfernt.
Stefan Rohrers Objekte machen Geschwindigkeit anschaulich. Vor unseren Augen materialisieren sich Geschichten von spannenden Autorennen, von packenden Verfolgungsjagden, aber auch von der gewöhnlichen Flucht aus dem Alltag, der Urlaubsreise oder dem Wochenendausflug. Plötzlich wähnen wir uns am Steuer dieser beschleunigten Gefährte, legen uns in die Kurve, reißen am Lenkrad. Motoren heulen, Reifen quietschen. Werden wir die Kurve noch schaffen oder schießen wir über sie hinaus? Wir lassen unserer Fantasie freien Lauf.
Die raumgreifende, gut 13 Meter lange Arbeit Yellow Arrow von 2011 erwächst aus einem leicht geschwungenen Schweif, der zunehmend breiter wird. Schließlich windet sich das hochglanzpolierte Objekt um einen Baum, steigt an ihm empor und gibt sich am Ende als leuchtend gelbes Auto zu erkennen. Die Dynamik dieser Arbeit beeindruckt. Man spürt förmlich, wie der Wagen übersteuernd auf den Baum zurast, unaufhaltsam. Doch der Kampf mit Physik und Maschine ist in diesem Moment weder gewonnen noch verloren. Das Auto, in seiner Rotationsbewegung um den Baum, hat noch keinen Kratzer abbekommen. Die glänzende Oberfläche zeigt keinen Makel. Sollte es dem Fahrer doch gelingen, das Steuer im letzten Moment herumzureißen? Sitzt am Steuer gar Walter Röhrl, der wohl bekannteste deutsche Rallyefahrer? 2 Er war berühmt dafür, seine Rennwagen stets mehr mit dem Gaspedal als mit dem Lenkrad zu steuern und Kurven zumeist quer zu durchfahren. Von 1975 bis 1977 machte er in einem gelben Opel Kadett GT/E die Rallyepisten der Welt unsicher. Auf einem solchen Sportcoupé basiert auch Yellow Arrow, es fehlt nur die mattschwarze „Kriegsbemalung“ auf dem gelben Lack. Doch dass es sich hier um die Momentaufnahme eines Autorennens handelt, ist nur eine von vielen möglichen Deutungen.
Wie bei Yellow Arrow wählt Stefan Rohrer das Ausgangsmaterial seiner Plastiken stets mit Bedacht. Oft sind es Fahrzeuge, mit denen sich viele persönliche Erinnerungen verbinden, sei es an den Wagen der Eltern oder den ersten eigenen fahrbaren Untersatz, die Vespa oder Schwalbe.3 Wer hat noch nie in einem VW Käfer oder Golf gesessen, wer noch nie von einem Porsche geträumt? Diese Erfahrungen projizieren sich auf Rohrers Skulpturen. So werden sie zum Spiegel unserer persönlichen Erinnerungen, Wünsche und Träume. Déesse von 2010 besteht aus dem Modell eines Citroën DS, eben jenem Auto, das Roland Barthes 1957 in seinen Mythologies zu der Aussage inspirierte, das Auto sei „heute die ziemlich genaue Entsprechung der großen gotischen Kathedralen [...]: eine große epochale Schöpfung, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern entworfen wurde und von deren Bild, wenn nicht von deren Gebrauch ein ganzes Volk zehrt, das sie sich als vollkommen magisches Objekt aneignet.“ 4 Auffällig oft verwendet Stefan Rohrer Modelle der Marke Porsche. Das mag an der räumlichen Nähe seiner Heimat zu deren Produktionsstätte liegen, doch ist es vor allem die emotionale Aufladung der Fahrzeuge, die sie für Rohrer so interessant machen. Der Porsche 911 ist wohl der Inbegriff des deutschen Sportwagens. Seine Grundform ist seit über 50 Jahren unverändert und hat nichts von ihrem Reiz verloren.5 Die fließende Form und die muskulösen Proportionen tragen eine ungeheure Dynamik in sich. Besonders deutlich wird dies in der für Rohrer ungewöhnlichen Arbeit Helios von 2011, die den Fetischcharakter des Sportwagens gleichzeitig manifestiert und auf die Spitze treibt. Die innen und außen handvergoldete Karosserie eines Porsche 911 der ersten Generation ist seiner wichtigsten Attribute beraubt. Motor, Räder und Lenkrad sucht man vergebens. Was bleibt ist die bloße Hülle, eine zerklüftete Blechlandschaft im Innern, glatte Oberflächen außen, durchbrochen von Rostlöchern. Spuren, die die Zeit im Lauf der Jahrzehnte an der Haut des edlen Automobils hinterlassen hat. Was einst die linke Spur bundesdeutscher Autobahnen beherrschte, liegt nun flach auf dem Boden, unbeweglich, immobil, und hat doch nichts von seiner Faszination eingebüßt. Denn schon die bloße Form verheißt Schnelligkeit. Diese Energie greift Rohrer beispielsweise in der Arbeit Carrera 7 von 2013 auf, steigert sie und lässt das signalgrüne Coupé aus der Bahn schießen. Doch nicht alle Arbeiten spielen mit unseren persönlichen Erinnerungen. Einige Werke haben einen realen Bezug. So erinnert Avus von 2013, in der ein Mercedes „Flügeltürer“ aus der berüchtigten Steilkurve der alten Berliner Rennstrecke schießt, zugleich an die legendären Mercedes-Silberpfeile aus den 1950er-Jahren. In Carrera II von 2006 erkennt man eben jenen Porsche-Rennwagen wieder, den Steve McQueen im Kinofilm Le Mans von 1971 beim berühmten 24-Stunden-Rennen pilotierte.
Stefan Rohrer weiß um die Emotionen, die das Automobil zu wecken vermag. Doch woher kommt diese Faszination, die uns auch nach über 125 Jahren Automobilgeschichte nicht vom Auto ablassen lässt? Wohl kein zweiter technischer Gegenstand wird in vergleichbarer Weise mythologisiert. Das Auto war nie nur ein gewöhnlicher Gebrauchsgegenstand unter vielen. Ganz nüchtern betrachtet liegt sein reiner Gebrauchswert darin, Menschen und Lasten von einem Ort zum anderen zu befördern. Doch es fällt schwer, eine Erfindung, die sowohl das Erscheinungsbild der Welt, als auch den Blick des Menschen auf seine Umwelt so tiefgreifend verändert hat, nur auf seinen bloßen Zweck zu reduzieren. Auf diese Weise ist die enorme Bedeutung, die das Auto im Denken und Handeln des Menschen einnimmt, nicht zu erklären.
Das Auto löste eine Mobilitäts-Revolution aus, die einen historischen und gesellschaftlichen Wandel nach sich zog. Mit der Eisenbahn war es dem Menschen im frühen 19. Jahrhundert gelungen, sich von der Kraft des Tieres zu emanzipieren, zumindest was die Überwindung weiter Strecken angeht. Am Ende des Jahrhunderts, als sich die ersten Autos anschickten, ausgehend von Deutschland und Frankreich die unbefestigten Straßen der westlichen Welt unter die Räder zu nehmen, hatte die Eisenbahn bereits ein sehr ansehnliches Schienennetz entwickelt. Sie beflügelte die Industrielle Revolution und ermöglichte dem Menschen eine zuvor nie dagewesene Mobilität. Doch was die Zeitgenossen an der Eisenbahn wohl am meisten faszinierte, war ihre Geschwindigkeit. Waren die ersten Exemplare noch kaum schneller als eine Postkutsche, stießen die Lokomotiven schon bald in Temporegionen vor, die noch nie ein Mensch zuvor hatte erleben können. Beeindruckend war vor allem die scheinbare Leichtigkeit, mit der ihr dies dank einer in ihrem Innern verborgenen Kraft gelang. Schon beim Anblick einer sich in Fahrt befindlichen Eisenbahn vermischte sich Faszination mit Schauder, was bei der ersten Mitfahrt oftmals in blanke Angst umschlug. Doch nach einer gewissen Gewöhnungsphase machte die anfängliche Skepsis einer enormen Begeisterung Platz. Die Eisenbahn ermöglichte Passagieren und Beobachtern bislang unbekannte Seherlebnisse. Durch das schnelle Vorbeiziehen der Landschaft beim Blick aus dem Zugfenster verdichtet sich diese zu einem einzigen Seheindruck, während die Wahrnehmung des einzelnen Objekts erschwert wird. Diese neue Erfahrung stellte auch Künstler vor neue Aufgaben. Die über Jahrhunderte studierte und geschulte Darstellungstradition menschlicher und animalischer Bewegung war auf Maschinen wie die Eisenbahn nicht anwendbar. Sie hat keine Muskeln, sie hebt nicht vom Boden ab, hat keine schwingenden Extremitäten. So suchte man nach Möglichkeiten, die neuen Seherfahrungen malerisch umzusetzen, was der damals vorherrschenden, auf Genauigkeit ausgelegten Akademischen Malerei widersprach. William Turner gelang es in seinem Werk Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway von 1844 wohl als Erstem, eine Eisenbahn in einer Art und Weise darzustellen, die ihre schnelle Bewegung nachvollziehbar werden lässt. Doch Darstellungen wie diese sind vergleichsweise selten. Bildthemen aus Geschichte, klassischer Mythologie und Religion blieben bis ins späte 19. Jahrhundert vorherrschend.6
Hatte die Eisenbahn die westliche Welt schon in einen Geschwindigkeitsrausch versetzt, fügte das Auto dem noch eine wesentliche Komponente hinzu. Bei der Eisenbahn musste man sich, um am Fortschritt und den neuen Möglichkeiten größerer Raumbeherrschung teilzuhaben, einem Apparat von Fahrplänen, Abfahrtszeiten und vorgeschriebenen Strecken unterordnen. Konnte man in der Pferdekutsche noch selbst bestimmen, wohin die Reise gehen sollte, war es nun die Schiene, die Weg und Ziel vorgab. Man wurde vom Kapitän zum Passagier, vom Beweger zum Bewegten. Und gerade die wohlhabende Bevölkerung fühlte sich nicht gerne „transportiert“. Das Automobil, das nach offizieller Geschichtsschreibung im Jahr 1886 die ersten Meter auf öffentlichen Straßen zurücklegte, bot einen Ausweg aus diesem Dilemma. Die Allgemeine Automobil-Zeitung schrieb 1906: „Das Automobil, es will dem Menschen die Herrschaft über Raum und Zeit erobern, und zwar vermöge der Schnelligkeit der Fortbewegung. Der ganze ungeheure Apparat der Eisenbahn, Schienennetz, Bahnhöfe, Signalstationen, Überwachungsdienst und Verwaltungsdienst fällt hier weg und verhältnismäßig frei waltet der Mensch über Raum und Zeit.“ 7 Das Automobil machte das Erlebnis Geschwindigkeit jederzeit verfügbar und trug es auch in Gegenden, die von der Eisenbahn noch nicht erreicht worden waren. Auch wenn die ersten Autos langsamer und unzuverlässiger als die Lokomotive waren, fühlte sich der Mensch am Steuer als „Herr über Raum und Zeit“. Er gab nun der Maschine Weg und Geschwindigkeit vor. In dieser Zeit, in der noch kaum jemand ein Auto besaß, hat die Faszination für das Automobil ihre Wurzeln. Sie liegt in dieser Freiheit, sich durch einen bloßen Dreh am Zündschlüssel oder einen Druck auf den Startknopf spontan und jederzeit aus den alltäglichen Zwängen und der Enge seiner Umgebung befreien zu können.
Doch es ist nicht allein die vermeintliche Beherrschung von Raum und Zeit, die dem Automobil eine so gewichtige Rolle in unserem Denken und Handeln verschafft. Das Auto bietet uns nicht nur die Möglichkeit, die häufig unterdrückte Sehnsucht nach Freiheit, Unabhängigkeit und Abenteuer auszuleben, sondern befriedigt zugleich unser tiefes Bedürfnis nach Sicherheit und Verlässlichkeit. Wir vertrauen dem Auto unser Leben an und übertragen ihm einen Teil der Verantwortung. Es vermittelt uns ein Gefühl der Geborgenheit und bietet ein paar Quadratmeter Privatsphäre, während wir den öffentlichen Raum durchfahren. Obwohl uns nur einige Zentimeter Blech, Glas und Lack von der Außenwelt trennen, haben wir das Gefühl, im Auto von der Umgebung abgeschottet zu sein. Es wird zum Zufluchtsort und Rückzugsraum. Wo immer man ist, das eigene Auto bietet immer ein Stück Heimat. So entwickelt sich zwischen Mensch und Maschine oft eine enge, geradezu intime Beziehung. Für viele ist das Auto ein Statussymbol, mit dem man Macht und Einfluss nach außen präsentieren kann, für andere ein Mittel, sich von der Masse abzuheben und ein Statement zu setzen. In beiden Fällen wird das Auto zum Identifikationsobjekt.
Jeglicher Versuch, den Autofahrer in seiner Freiheit einzuschränken, wird seit jeher von einem Aufschrei der Entrüstung beantwortet. „Freie Fahrt für freie Bürger“, ein Slogan, der als Antwort auf die der Ölkrise von 1973 folgenden Reglementierungen im Straßenverkehr entstand, schwingt bis heute in den Köpfen der automobilen Gesellschaft mit, auch wenn die Vollmotorisierung sich längst selbst im Weg steht. Unterhaltskosten, Unfallzahlen, Umweltschäden, Verkehrsinfarkt, nichts scheint in der Lage zu sein, die Liebe des Menschen zum Automobil zu trüben. Dennoch löst wohl kaum ein zweites technisches Objekt eine vergleichbare Ambivalenz in den Überlegungen und Gefühlen der Menschen aus. Was mit einer Befreiung begonnen hatte, wurde für viele zum Zwang. Die zu überwindenden Strecken sind weiter geworden, Zeit- und Termindruck gestiegen. Das Freizeitgerät wurde für viele zur bloßen Notwendigkeit, zur Existenzsicherung. Und dennoch sind die Träume von einst dieselben geblieben. Sie schwanken zwischen Nostalgie und Utopie, aber Herr über Raum und Zeit sind wir schon lange nicht mehr.
Es sind diese Träume und Utopien, die aus Stefan Rohrers Skulpturen sprechen, nicht die Realität. Dies ist auch der Grund, warum wir solche Freude an ihnen haben.
Formal nimmt Rohrer Anleihen aus der reichen Kunstgeschichte des Automobils.8 Seit dem Impressionismus haben sich Künstler beinahe aller Gattungen und Stilrichtungen in vielfältiger Weise mit dem Automobil beschäftigt, doch nutzten sie es zunächst in erster Linie als Requisit für Darstellungen des modernen Stadtlebens, nicht als eigentliches Bildmotiv. Dazu avancierte das Auto zunächst in der angewandten Kunst. Karikaturisten, Buchillustratoren und Plakatmaler nahmen sich seiner an. Die Lithografie Der Automobilist (1896) von Henri de Toulouse-Lautrec, das wohl früheste Beispiel der Beschäftigung eines hochrangigen Künstlers mit dem Automobil als Motiv, ist diesem Bereich zuzurechnen. Auftragsmaler bannten die Autos auf Rechnung von Automobilclubs und wohlhabenden Automobilfreunden auf die Leinwand. Die um die Jahrhundertwende wachsende Begeisterung für Autorennen wussten einige, heute nahezu vergessene Künstler wie der Franzose Ernest Montaut für sich zu nutzen. Unter dem Einfluss der seinerzeit gerade aufkommenden Rennsportfotografie, vor allem der eines Jacques-Henri Lartigue, gelang diesen Künstlern eine ganz neue Bildfindung in der malerischen Darstellung von Geschwindigkeit. Durch dynamische Perspektiven sowie die Betonung und Verlängerung der Motorhauben vermitteln ihre Automobile oft den Eindruck phallischer Aggressivität. Aufgewirbelter Staub und sogenannte „speed lines“, parallel zur Bewegungsrichtung verlaufende dünne Striche, die später auch Bewegung in Comicstrips brachten, betonen die Bewegungsrichtung.
Zum Sujet der künstlerischen Avantgarde wurde das Auto erstmals im italienischen Futurismus. Er war als Antwort auf den seinerzeit vorherrschenden akademischen Formalismus und eine generell sehr in der Tradition verharrende Kultur entstanden, welche die Augen vor der Gegenwart mit ihren kleinen und großen Revolutionen verschloss. In ihren Manifesten forderten die Futuristen einen radikalen Bruch auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Sie erkannten, dass das Automobil in der Lage war, die Welt des 20. Jahrhunderts zu verändern und entscheidend zu prägen. Es repräsentierte die Innovationstendenzen und den Geist der technischen Revolution, war ein Sinnbild der Moderne schlechthin und bot sich daher als Symbol futuristischer Weltanschauung an.
Giacomo Balla, Luigi Russolo, Mario Sironi und anderen Vertretern dieser Kunstrichtung gelang es, eine neue Automobil-Ikonografie zu entwickeln. Ihre Kunstwerke zeichnen sich durch eine äußerst unkritische Herangehensweise an ihre Bildthemen aus. Was sich bewegte und Lärm erzeugte, wurde von den Vertretern der futuristischen Bewegung als schön empfunden: Autos, Eisenbahnen, Flugzeuge, sogar Kriegsmaschinerie. Die Maschine wurde zur Metapher der Epoche. Kraft, Bewegung und Dynamik waren die neuen Schlagworte, Tempo und Lärm ihr Ausdruck. Das Automobil wurde von Filippo Tommaso Marinetti, dem Hauptakteur der Bewegung, in seinem Manifest des Futurismus von 1909 gar selbst zum Kunstwerk erhoben: „Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.“ 9 Über zwei Jahrzehnte hinweg brachten die Futuristen das fahrende Auto in vielfachen Darstellungsweisen auf die Leinwand. Dessen Form und Oberfläche waren für sie allerdings ohne Belang. Nicht das Objekt selbst, sondern seine schnelle Bewegung und die von ihm erzeugten Geräusche empfanden die Futuristen als darstellungswürdig, weshalb die Automobile, wenn überhaupt, nur schemenhaft in ihren Umrissen zu erkennen sind. Sich die künstlerischen Errungenschaften der Kubisten zunutze machend gelang es ihnen, optische, akustische und taktile Impressionen zu vereinen und Bewegung, aber auch Emotionen und Geräusche auf der Leinwand sichtbar werden zu lassen. Allein Giacomo Balla schuf über 100 Kunstwerke, in denen ein fahrendes Automobil, oder vielmehr dessen optischer Effekt, das Hauptmotiv ist. In Luigi Russolos Gemälde Dynamismus eines Automobils von 1912 / 13 beugt sich die Umwelt vor der Macht des Autos. Einem Dolch gleich durchstößt es den Raum.
Die Nähe Stefan Rohrers zum italienischen Futurismus auf formaler Ebene ist offensichtlich. Ganz deutlich wird dies beispielsweise im Vergleich von Rohrers Werk Manta von 2006 mit dem spätfuturistischen Gemälde Le forze della curva von Tullio Crali aus dem Jahr 1930. Beide, sowohl der mattschwarze Sportwagen von Rohrer als auch Cralis Rennwagen, entwickeln sich aus einem Pfeil, dem wohl ältesten Bildsymbol für Bewegung und Schnelligkeit. Wie aus dem Nichts schießen sie ins Hier und Jetzt, als hätten sie die Dimensionen von Raum und Zeit durchbrochen.
Doch Stefan Rohrers Arbeiten lassen sich nicht allein auf den Futurismus zurückführen. Die ausdrucksstarke Farbigkeit erinnert sowohl an Werke des amerikanischen Abstrakten Expressionismus als auch an die Pop Art,10 während das Prinzip von Konstruktion und Dekonstruktion auf den französischen Nouveau Réalisme, insbesondere auf Arman verweist. Wandarbeiten wie 8. Schleudertrauma von 2013 erinnern in der Formgebung an die informellen Gesten eines K.O. Götz. Auch die Arbeiten seines Lehrers an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, Werner Pokorny, der in seinen Werken oft abstrahierte Häuser zum Überschlag bringt, mögen auf Stefan Rohrer inspirierend gewirkt haben.
Stefan Rohrer selbst sieht die Vorbilder für sein Schaffen weniger im Futurismus als vielmehr im Comic und dessen symbolhafter Darstellung von Bewegung. Deutlich wird dieser Bezug beispielsweise in Comics des französisch-belgischen Zeichners Jean Graton, der die Abenteuer des Rennfahrers Michel Vaillant beschreibt, oder auch in japanischen Animes. Rohrers Skulpturen sind also gewissermaßen in die Dreidimensionalität übersetzte Comicstrips. Denn wie dort gelingt es Rohrer, mit der Darstellung eines einzigen Moments, dem im lessingschen Sinne „fruchtbaren Augenblick“, eine ganze Geschichte zu erzählen.11 Diese materialisiert sich wie in Zeitlupe vor dem Auge des Betrachters. Die Zukunft bleibt ungewiss, der Fantasie des Betrachters überlassen.
Sind Rohrers Formfindungen bei den Großskulpturen wie Manta und Yellow Arrow allein aus technischer Sicht gewisse Grenzen gesetzt, kann er in seinen Wandobjekten aus Auto- und Motorradmodellen seiner Kreativität gänzlich freien Lauf lassen. Teils elegant geschwungen, teils wild um sich wirbelnd vollführen Rohrers Motive, meist Rennwagen und Vespa-Roller, atemberaubende Kunststücke. Farbenfroh, spielerisch leicht und unbekümmert kommen sie daher auf ihrer schnellen Berg- und Talfahrt, rasen durch Serpentinen und Steilkurven. Schließlich verlieren sie die Bodenhaftung und heben ab. Zunächst ins schier Unendliche gedehnt, lösen sich die Formen schließlich auf und fliegen auf ihrer eigenen Bahn davon. Der Betrachter erfreut sich an den umherfliegenden Rädern und anderen Fahrzeugteilen, in manchen Arbeiten hält es nicht mal den Fahrer in seinem Gefährt. Alles wird schwerelos.
Dass sich hinter der verspielten Fassade von Stefan Rohrers Objekten ein ernster Hintergrund verbirgt, bleibt zunächst unter der hochglänzenden Oberfläche verborgen. Doch der Unfall und seine Folgen sind immer Thema in Rohrers Arbeiten. Ein eindringliches Beispiel ist die in Heidenheim aufgestellte Arbeit Vespa II von 2013, die sich um eine schiefe Straßenlaterne wickelt, mit der sie zuvor offenbar kollidiert ist. Speedster von 2007 weckt Erinnerungen an James Deans tragischen Unfall, bei dem der Schauspieler in einem solchen Porsche sein Leben verlor.12 Avus ruft Bilder des Horrorcrashs beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans 1955 wach, bei dem ein Mercedes Silberpfeil in eine Zuschauermenge flog und 80 Menschen in den Tod riss, oder auch an den spektakulären Abflug eines Mercedes-Rennwagens 44 Jahre später am gleichen Ort.13 Spätestens nach Andy Warhols Serie Death and Disaster wurde der Tod auf der Straße als Gegenwelt zur geradezu libidinösen Autobesessenheit der Gesellschaft zum bestimmenden Thema in der künstlerischen Darstellung des Automobils. Neben Flugzeugabsturz und elektrischem Stuhl bildete er in erster Linie Autounfälle ab. Die tragischen Ereignisse wurden gleichsam vor den Augen des Publikums eingefroren, ins Monumentale gesteigert und stetig wiederholt, wie in Green Disaster #2 (Green Disaster Ten Times) von 1963. So führte Warhol dem Publikum Gewalt und Tod als schreckenerregende Schattenseiten der Gesellschaft plakativ vor Augen und zwang es dazu, sein durch die Massenmedien abgestumpftes Wahrnehmungsvermögen zu hinterfragen.
Der Unfall ist die Schattenseite des Geschwindigkeitsrauschs. Abrupt und unvorhersehbar bricht das Ereignis über das Fahrzeug und seine Insassen herein und bringt sie zum sofortigen Stillstand. Von einer Sekunde auf die andere verlieren alle positiven Assoziationen, die man mit dem Auto verbindet – Freiheit, Unabhängigkeit, Geborgenheit – ihre Bedeutung. Der Mythos wird plötzlich entzaubert. Statt eines Objekts, mit dem man freudige Momente verbindet, seien es Erinnerungen oder Zukunftsträume, ist es nach dem Unfall ein Mahnmal für die Schattenseite der Mobilität, die im Alltag fortwährend negiert wird. Aus dem Symbol für Wohlstand und Glück wird ein Symbol für Leid und Tod. Wolf Vostell, der den Crash in zahlreichen Happenings thematisierte, schrieb: „Wer ein Auto kauft, kauft den Unfall gleich mit.“14 Ganz ähnlich formuliert es Stefan Rohrer: „Autofahren bedeutet Freiheit, die Orte zu wechseln. Man erkauft sie sich durch die Gefahr einer Katastrophe.“15 Doch der Unfall ist ein automobiler Nicht-Moment. Obwohl Teil unseres Alltags, findet er in unseren Köpfen nicht statt. So verhält es sich auch bei den Objekten Stefan Rohrers. Der Unfall schwingt stets mit, aber wir nehmen ihn nicht wahr.
Stefan Rohrer erhebt nicht den mahnenden Zeigefinger. Seine Botschaft vermittelt sich unterschwellig und humorvoll. Seine Arbeiten sind durchströmt von einer positiven Grundhaltung, die sich auf den Betrachter überträgt, und hinterlassen selten einen negativen Nachgeschmack. Letztlich kann Stefan Rohrer nicht verbergen, dass auch er dem Mythos Automobil erlegen ist.
1 | Entlehnt dem Werbeslogan für den von 1968 bis 1973 produzierten Opel GT. |
2 | Walter Röhrl war zwischen 1973 und 1987 als Profi im Rallyesport aktiv. Der zweifache Weltmeister (1980 und 1982) errang unter anderem zwischen 1980 und 1984 vier Siege bei der berühmten Rallye Monte Carlo. |
3 | Während die Vespa von Piaggio nach dem Zweiten Weltkrieg von Italien aus ganz Westeuropa mobilisierte, tat dies die Simson KR51, genannt „Schwalbe“, mit den Bürgern der DDR. |
4 | Roland Barthes, „Der neue Citroën“, in: Ders.: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe, Berlin 2012 (Originalausgabe Paris 1957), S. 196. |
5 | Das Design des Porsche 911 wurde von Ferdinand Alexander Porsche, dem Sohn des Firmengründers Ferry Porsche, geschaffen. Der Wagen feierte 1963 auf der IAA in Frankfurt Premiere und wurde ab 1964 ausgeliefert. |
6 | In diesem Zusammenhang muss Adolph von Menzels Berlin-Potsdamer |
7 | Zit. nach: Wolfgang Sachs, Die Liebe zum Automobil. Ein Rückblick in die Geschichte unserer Wünsche, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 19. |
8 | Der folgende Abschnitt fußt auszugsweise auf: Sebastian Steinhäußer, Das Automobil in Kunst und Design der 1960er und 1970er Jahre (unpubl. Magisterarbeit, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt / M.), Frankfurt / M. 2008. |
9 | Zit. nach: Umbro Apollonio, Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstlerischen Revolution 1909 – 1918, Köln 1972, S. 33. |
10 | Die Künstler der Pop Art setzten sich oft mit dem Auto in seiner Funktion als Werbeikone auseinander. Im British Pop nahmen sich in erster Linie Eduardo Paolozzi und Richard Hamilton, in der amerikanischen Pop Art Claes Oldenburg, James Rosenquist, Andy Warhol, Tom Wesselmann u.a. in vielfältiger Weise des Themas an. |
11 | In seiner Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie von 1766 beschreibt Gotthold Ephraim Lessing anhand der antiken Laokoon-Gruppe aus den Vatikanischen Museen, wie der Künstler den „fruchtbaren Augenblick“ gefunden hat, in dem eine ganze Geschichte, in diesem Fall die Geschichte des Priesters Laokoon und seiner Söhne, in einem einzigen Augenblick zusammengefasst ist. |
12 | Am 30. September 1955 kollidierte der Schauspieler in seinem Porsche 550 Spyder an einer Kreuzung in Kalifornien mit einem Ford und erlag den dabei erlittenen Verletzungen. |
13 | Beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans 1999 hob ein Rennwagen des Typs Mercedes-Benz CLR von der Fahrbahn ab, überschlug sich mehrfach spektakulär in der Luft und landete vollkommen zerstört neben der Strecke. Der Fahrer kam glücklicherweise mit leichten Blessuren davon. |
14 | Zit. nach: Pablo J. Rico, Vostell Automobile, Tübingen/Berlin 2000, S. 15. |
15 | Zit. nach: Kunststiftung Erich Hauser: Werkstattpreis 2002/2003: Richard Lempart, Kerstin Mayer, Tino Panse, Stefan Rohrer, Rosa Rücker, Rottweil 2003, S. 62. |
Ich Mercedes, Du Saab
Auto-biografische Anmerkungen zur Kunst von Stefan Rohrer
Nicole Fritz
In einer Jurysitzung zur Kunst im öffentlichen Raum werden dem Vorsitzenden Werke von Stefan Rohrer präsentiert. Beim Anblick der ins Groteske verzerrten Vespas und Autos bricht der gestandene Landrat in sehr lautes Lachen aus, worauf sich die Atmosphäre unter den Anwesenden mit einem Schlag auffällig entspannt anfühlt.
Diese Szene ist kein Einzelfall, auch bei Eröffnungen und in Ausstellungen Stefan Rohrers konnte ich immer wieder beobachten, dass Betrachterinnen und Betrachter jeden Alters angesichts seiner Arbeiten spontan in Lachen ausbrachen. Doch über was oder wen wird gelacht und warum? Ich entscheide mich für einen auto-biografischen Zugang, um dem Geheimnis der automobilen Skulpturen auf die Spur zu kommen.
Der Blick in den Rückspiegel
Die automobile Leidenschaft ist sowohl für den Künstler als auch für die Autorin bereits von Kindesbeinen an ein Lebensthema. Während Stefan Rohrer sich geschlechtsspezifisch korrekt für Carrera-Bahnen und Spielzeugautos interessierte, gehörten auch für mich, ob ich wollte oder nicht, schnelle Autos und in rasendem Tempo vorbeiziehende Bäume, Häuser und Menschen zur frühkindlichen Erfahrung. Als Tochter eines Autoentwicklers eines großen deutschen Autokonzerns kam ich bereits mit fünf Jahren in den Genuss, am Steuer eines Mercedes zu sitzen; mit zehn war ich nicht nur Box-Autofahren sondern auch Steilkurven und Geländewagen fahren erprobt. Die väterliche Faszination an der Geschwindigkeit war insbesondere an Sonntagen bei Übertragungen von Autorennen im Fernsehen unüberhörbar; den stundenlang, aus meiner Sicht nutzlos, kreisenden Rennwagen stand ich mit interesselosem Wohlgefallen gegenüber und wunderte mich regelmäßig darüber, wie mann angesichts dröhnender Lautstärke der Rennmotoren in andächtige Trance verfallen konnte, die einen alles und jeden um sich herum vergessen ließ.
Ein Vorteil meiner automobilen Sozialisation war jedoch, dass ich zum Abitur standesgemäß ein eigenes Auto bekam, um dem Zeitgeist entsprechend mobil und flexibel zu sein. Eines Tages auf dem Weg zur Universität unterschätzte ich die winterlichen Verkehrsverhältnisse, so dass ich bereits früh in Berührung mit den Schattenseiten der Automobilisierung kam. Nach einem filmreifen Überschlag auf winterlich vereister Landstraße entstieg ich jedoch, wie durch ein Wunder unverletzt, dem noch jungen Gefährt. Der zuvor in stolzem Schwarz glänzende Ford Fiesta (Baujahr 1989) hatte sich von einer Sekunde zur anderen, die mir im Moment des Überschlags allerdings wie Stunden erschienen, in einen bemitleidenswürdigen, verbeulten Totalschaden auf vier Rädern verwandelt. Völlig unfähig zur autonomen Bewegung wurde mein Erstwagen mit geringer Lebenszeit von einem Abschleppwagen in die Richtung zurückgeschleppt, aus der er kurz vorher gekommen war. Dem Kultobjekt Auto begegnete ich fortan mit noch größerem Misstrauen und widmete mich als Kunst- und Kulturwissenschaftlerin aus der Distanz der Besonnenheit verstärkt den symbolischen Dingbedeutsamkeiten der Konsumkultur.
Auch Stefan Rohrer, 1968 geboren und wie ich der Generation Golf angehörig, entsprach keinesfalls dem Klischee eines juvenilen Vertreters der nach Erfolg und Konsum strebenden Ego-Gesellschaft wie Florian Illies in seinem Bestseller Generation Golf 1, die Teenager der 1980er Jahre charakterisiert hatte. Völlig generationsuntypisch stand auch er dem Auto als Statussymbol früh distanziert gegenüber. „Als Kind wollte ich Autodesigner werden. Als Erwachsener war das für mich politisch nicht mehr tragbar. Für mich steckt in dem Thema viel Ambivalenz drin, die Faszination am Auto war mir später auch irgendwie peinlich und ich stellte das Auto als Prestigeobjekt in Frage“. Anstatt zielstrebig eine stromlinienförmige Karriere als Autodesigner anzustreben, begann Stefan Rohrer deshalb bodenständig eine Ausbildung als Steinmetz und entschied sich erst danach, zunächst als Kunststudent an der Burg Giebichenstein in Halle und später an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, den inneren kreativen Antriebskräften auf die Spur zu kommen.
Abstand halten
Möglicherweise, weil ihm die Erfahrung eines Autounfalls und eines damit nicht selten einhergehenden realen Schleudertraumas erspart geblieben war, konnte Stefan Rohrer sich die kindliche Faszination für das Auto bis ins Erwachsenenalter bewahren. Mit großer Stoßkraft bricht sich diese dann in den frühen künstlerischen Arbeiten affektiv Bahn.
Bereits während des Studiums lässt der Künstler dem kindlichen Willen zur schöpferischen Formfindung freien Lauf. Getragen und angezogen von der Lust an der Bewegung entwickelt er, ausgehend von Spielzeugautos und gefundenen, ausrangierten Vespas sowie realen Autokarosserien, individuelle Fantasie-Vehikel der Marke Eigenbau.
Beispielsweise Strudel aus dem Jahr 2004. Bei diesem hat Rohrer Dach und Haubenteile eines blauen VW Golf 2 (Baujahr 1983 – 1992) eigenhändig in expressionistischen Formen himmelwärts verlängert. Die in diesem Künstlerbuch dokumentierte Arbeit Schleudertrauma Nr. 11 dagegen zeigt den Zusammenstoß zweier unterschiedlich buntfarbiger Modellautos der Marken Pontiac GTO (Baujahr 1964 – 1965) und Ford Mustang (Baujahr 1964 – 1973), typische Vertreter amerikanischer Muscle Cars 2, in dem Moment, in dem deren Räder, Hecks und Miniatur-Fahrer durch den Aufprall gloriolenartig durch die Luft geschleudert werden. Einer fotografischen Momentaufnahme gleich, ist der Höhepunkt der zentrifugalen Fliehkräfte skulptural eingefroren. Auch wenn der Künstler die Bewegungsform der Autos weiterlaufen lässt und den Zusammenstoß nicht zeigt, schwingt die Katastrophe letztlich gedanklich dennoch mit und findet gleich einem religiösen Memento Mori ihre unausweichliche gedankliche Fortsetzung in den Köpfen der BetrachterInnen – mit oder ohne Schleudertrauma-Erfahrung.
Rohrers grazile starkfarbigen Memento Mori aus Blech stehen zum einen, da reale alltägliche Objekte in die Kunst überführt werden, in der Tradition der Pop Art. Die elegante malerische Linienführung von Schleudertrauma Nr. 11 und seiner anderen Wandreliefs, erinnert darüber aber hinaus auch an die Futuristen, die das Automobil und den damit verbundenen Rausch der Geschwindigkeit zu Beginn des letzten Jahrhunderts verherrlichten. Dieser Faszination für die Bewegung und die Oberflächenästhetik der Ware hat der Künstler mit diesem Künstlerbuch nun eine weitere Facette hinzugefügt, indem er fotografische Abbildungen des Werkes Schleudertrauma Nr. 11 gescannt und wie die realen Arbeiten verzerrt und verfremdet reproduziert hat.
Indem Rohrer die dynamischen automobilen Bewegungsformen in seinen Werken ins Groteske überzeichnet, schießt er im wahrsten Sinne des Wortes über die positivistisch in die Zukunft gerichtete Technikgläubigkeit der Moderne hinaus und nimmt aus einer postmodernen Haltung heraus zum vorwärtsgerichteten positivistischen Optimierungs-Paradigma der Leistungsgesellschaft schneller, höher, weiter im Hier und Jetzt skeptisch-ironisch Stellung. Eine mögliche Erklärung für das Lachen des Landrates!?
Die postmoderne Distanz des Künstlers zum Schein der Wohlstandsgesellschaft mit ihren genormten Fassaden-Identitäten wird auch in der Arbeit Lothar 2007 auf humorvolle Art und Weise deutlich. Die Gleichförmigkeit kleinbürgerlicher Vorstadt-Siedlungen unterläuft Rohrer subversiv dadurch, dass er in die Modell-Reihenhäuschen en miniature in Anspielung auf den Sturm Lothar formal, umgangssprachlich formuliert mal so richtig den Rauch reingelassen hat.
Während Stefan Rohrer, von der Öffentlichkeit noch relativ unbemerkt, schrittweise seine konstruktive Formensprache aus Schrottteilen und erfundenen, selbstentworfenen Formen für sich weiterentwickelte und verfeinerte, kam ich an der Universität Tübingen als Geistesarbeiterin in fortgeschrittenem Stadium, zum Leidwesen meines Vater, in Berührung mit kulturkritischen Ansätzen, die sich in den 1980er Jahren verstärkt mit der Ambivalenz einer automobil zentrierten Konstruktion der Wirklichkeit auseinandersetzten.
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Besonders prägend waren für mich die französischen Soziologen, Bücher wie Die feinen Unterschiede3 von Pierre Bourdieu oder Das System der Dinge 4 von Jean Baudrillard, die aufzeigen, wie der Mensch in der modernen Konsumgesellschaft zur Identitätskonstruktion und Selbstdarstellung auf die Dingkultur zurückgreift. Nach dem Motto Ich Prada, Du Armani 5 gerät der Funktions- und Gebrauchswert der Dinge im Lifestyle-Kapitalismus zunehmend in den Hintergrund. Wichtiger als die Funktion der Dinge ist das, was die Waren bedeuten und an Gefühlen beim Konsumenten auslösen. „Wir sind, was wir kaufen“ 6, heißt es in der aktuellen feuilletonistischen Neuauflage dieser Erkenntnis des Schriftstellers Robert Misik. „Ich bin ein Ich, weil ich Prada trage und nicht Armani“. Mit den Produkten kauft man Lebensstile, die zu einem passen und die eigene Identität modellieren. „Die Menschen“, schreibt der Kulturtheoretiker Hartmut Böhme, „erweitern ihre Ich-Grenzen auf immer mehr Gegenstands-Sphären. Niemals zuvor war die dingliche Umwelt vergleichbar dicht, mannigfaltig, verlockend, künstlich, faszinierend …“ 7.
Es liegt auf der Hand, dass insbesondere das Produkt Auto große Potentiale zum Ich-Tuning birgt und für eine derart außenorientierte Sinngebung geradezu prädestiniert ist. Nach dem Motto Ich Mercedes, Du Porsche, bietet die Automobilindustrie eine ganze Kollektion von Auto-Identitäten quasi von der Stange. Vom robusten Geländewagenfahrer bis zum Intellektuellen mit dem schwedischen Auto.
Während ich schreibe, kommt mir der Kommilitone Dirk Stork wieder in den Sinn. Dieser hat mich damals im Studium beeindruckt, weil er gegen das Auto als Ersatzidentität und Seelenprothese unter dem Titel Der Ritualisierte Umgang mit individueller Mobilität als Weg der Identitätsfindung? Eine automobile Kultour 8 leidenschaftlich ins Feld gezogen ist. „Diese Pseudoidentitäten, wie sie das Auto bieten“, schrieb Stork zu Beginn der 1990er Jahre, in seiner Zwischenprüfungsarbeit im Fach Empirische Kulturwissenschaft, „haben zwar den Vorteil, dass sie ständig an die Erfordernisse angepasst werden können, als Träger echter Identität … sind sie jedoch austauschbar und pflegeleicht, sozusagen sozial abwaschbar“ 9. Pamphletartig forderte er deshalb, nicht den Konsum sondern die Entwicklung einer innengeleiteten Identität, die der Einzelne aus sich selbst heraus in einem reflektiven Prozess entwickelt, wieder in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen. Den Menschen sollte, so das Fazit von Stork, durch verstärkte gesellschaftliche Angebote ermöglicht werden, ihre Persönlichkeit gleich einem Künstler und Wissenschaftler im kreativen Prozess zu finden und auszudrücken. Womit wir in der Gegenwart angekommen wären.
Während ich diese Zeilen von früher erneut lese, wird mir klar, was mich an Rohrers individualisierten Automobilen von Beginn an so fasziniert hat. Als Gegenmodelle zur Hochglanzästhetik automobiler Produktpaletten sind seine vier- und zweirädrigen Kunstgeschöpfe formgewordener authentischer Ausdruck individueller Freiheit; sie sind beseelt und verkörpern als Ausdruck eines innengeleiteten Lebens weniger den Schein als vielmehr Authentizität und damit nicht zuletzt auch die Freiheit der Kunst. Ich stolpere über das Zitat von Roland Barthes, dass sich die Wahrheit am besten aus dem Abfall lesen lässt, und meine Hochachtung vor der Rohrerschen Position steigert sich blechgladiolenartig himmelwärts ins Unendliche.Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Rohrer ist ein moderner Schamane, der bereits entwertete, industriell gefertigte Massenprodukte, die austauschbare Ware von der Stange, aufopferungsvoll, in stundenlanger handwerklicher Arbeit durch seinen manuellen Eingriff erneut beseelt und damit als Kunstfetisch erneut re-auratisiert. Stellvertretend für uns sucht er stoisch aufrecht nach der Wahrheit im Schrott, so dass wir gar nicht anders können, als unser Begehren und Streben im Spiegel eines von Künstlerhand zu neuem Leben erweckten Ford Mustangs, Opel Kadetts oder VW Käfers zu erkennen und über uns selbst zu lachen.
Mein Job ist erledigt. Nach dem Interview mit Stefan Rohrer fahren wir gemeinsam zu einem Stuttgarter Atelierhaus, das dem Zeitgeist entsprechend nicht nur zufällig auf dem Schrottplatz angesiedelt ist. Der Blick des Künstlers fällt auf eine verbeulte Porsche 911 Karosserie. Seine Augen beginnen zu leuchten und ich bin sicher, dass auf dieses Wrack, anders als möglicherweise für den darin Verunglückten, ein zweites Leben in der Kunst wartet; vielleicht sogar eine alle Zeiten überdauernde ewige Existenz im Museum.
1 | Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. 1. Auflage, Frankfurt 2000. |
2 | Diesen Hinweis verdanke ich Gerhard Fritz. |
3 | Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 1. Auflage, Frankfurt 1982. |
4 | Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Deutsche Ausgabe, Frankfurt 1968. |
5 | Thomas Assheuer: Ich Prada, Du Armani. In: Die Zeit vom 16. März 2000, Nr. 12, S. 43. |
6 | Robert Misik: Das Kult-Buch: Glanz und Elend der Kommerzkultur. Berlin 2007. |
7 | Hartmut Böhme: Das Strahlen fetischistischer Dinge im Konsum: Autos und Mode. In: Christine Blättler, Falko Schmieder (Hg.): In Gegenwart des Fetischs. Dingkonjunktur und Fetischbegriff in der Diskussion. Wien 2014, S. 31– 52. |
8 | Dirk Stork: Der ritualisierte Umgang mit der individuellen Mobilität als Weg der Identitätsfindung? Eine Automobile Kultour. Zwischenprüfungsarbeit im Fach Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen, Tübingen 1993. |
9 | Ebenda. |
Zeitdilatation, Zeitdilirium und zurück
Zu den Plastiken von Stefan Rohrer
Werner Meyer
Azzuro chiaro (2014) – Die beteiligten Personen sind aus der Szenerie verschwunden, geblieben ist das Zeugnis eines Desasters. Mit etwas Sentimentalität und Poesie kann man sich eine junge, moderne Lili Marleen vorstellen. Sie hat unter der Laterne auf ihren Ritter der Straße gewartet. Die verabredete, mit Sehnsucht erwartete Wiederbegegnung wird zur Katastrophe. Dem uns ebenso unbekannten Fahrer der Vespa konnte es nicht schnell genug gehen, und er hat die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Vielleicht kam er zu spät, auf jeden Fall zu schnell. Mit der vollen Wucht der unverhältnismäßigen Geschwindigkeit hat sich der Motorroller um die Laterne gewickelt. In dessen Deformation sind die Dynamik der Bewegung, der Kontrollverlust und das abrupte Scheitern zum Bild geworden. Mit der Dehnung des Fußraums zwischen dem Halt im hinteren Teil der Vespa und der ungebremsten Fortsetzung der Bewegung mit der Front des Fahrzeugs, wie die Lenkstange und das Vorderrad aus der Front der Vespa herausschießen, sind die Zeit und die Fliehkräfte der Geschwindigkeit Skulptur und Bild geworden. Personen gibt es in dem Bild nicht. Dieser Umstand ermöglicht es, diese Installation aus der Perspektive eines neugierigen, an ausdruckstarken Bildern und visuellen Sensationen interessierten Betrachters auch als ausgesprochen grotesk und komisch zu erleben, als absurde Begegnung und Umarmung einer Vespa mit einer Straßenlaterne. Durch die Abwesenheit von Menschen lassen sich die beiden Gegenstände in gewisser Weise selbst als eigenständiges Wesen in verunglückter Zweisamkeit wahrnehmen.1
In Göppingen steht auf einem Kreisel die Skulptur Blauer Strudel (2004), die Karosserie eines himmelblau lackierten VW Golfs, die sich in den Fliehkräften ihrer Drehbewegung auflöst. Die Imagination der Bewegung, des inneren Torsionsmoments dieses sich um seinen eigenen Mittelpunkt drehenden Fahrzeuges trifft abrupt auf die Gegenkräfte des Stillstands. In diesem Moment, den wir als heftigen Unfall sehen und erleben, werden Energie und Kräfte freigesetzt, mit denen sich die Karosserieteile über die rechte Seite vom Fahrzeug lösen und wie in einem Strudel nach oben geschleudert werden. In den Metallbändern wird diese Schleuderbewegung als visuelle, plastische Spur materialisiert. Geschwindigkeit entgleist, Ordnung, die Ganzheit der Form wird aufgelöst im Chaos, um für die Teile und ihren Bewegungsbahnen ein freies ästhetisches Spiel möglich werden zu lassen. Das meistgekaufte Auto, zweckmäßig und ansprechend gebaut für die Massen der Konsumenten, fester Bestandteil unserer Gesellschaft, wesentlicher Teil der Mobilität in der Welt seiner Nutzer entwickelt eine Autonomie, die die Sicherheit jeglicher Ordnung sprengt. Mit Schrecken und Staunen nehmen wir wahr, wie dieses so gewöhnliche Auto sein Bewegungsspiel in einer Pirouette versammelt und sich die Katastrophe in einem Motiv des klassischen Tanzes verdichtet.
In der Ausstellung in der Kunsthalle Göppingen bilden die Fahrzeuge einen Reigen. Bei der Plastik Turbo (2014) handelt es sich um einen Porsche 924, den man auch als „Hausfrauenporsche“ bezeichnet hat. Wie bei fast allen Arbeiten von Stefan Rohrer lösen der Schock plötzlichen Stillstands auf der einen Seite und auf der anderen das Bild der hohen Geschwindigkeit die Fliehkräfte aus, mit denen die Vorderräder, das Lenkrad und die Scheinwerfer aus der aufgebogenen Haube nach vorne katapultiert werden. Die klassische rote und silberne Rallyelackierung der Karosserie macht die Form, das Design ästhetisch auffällig und attraktiv und gibt selbst diesem Porschemodell ein Stück von dem Traum, mit diesem Auto sportlich und schnell fahren zu können. Kaum zu übersehen ist zugleich die Ironie im Zusammenhang mit dem bildhaften Geschehen, das in dieser Arbeit seinen springenden Punkt gefunden hat.
Bei Fast an Furious (2016) handelt es sich um die Karosserie einer in der passenden Farbe Blau lackierten, PS-starken Sportversion des Honda Civic CRS, eines kleinen, PS-starken Fahrzeuges. Die Stellung des Fahrzeuges zeugt von einem Straßenrennen und dem Schleudertrauma, mit dem Stefan Rohrer einige seiner Plastiken betitelt hat. Der Schock führt wieder zur Dehnung und Auflösung der Seite des Sportwagens, ein Rad, ein rot lackierter Sitz und das Lenkrad werden herausgeschleudert und verkörpern mit ihren Metall gewordenen Flugbahnen den energiegeladenen Moment von Bewegung und Stillstand und die einen Kreis andeutende Schleuderbewegung des Autos. Der Titel des Kunstwerks verweist auf die seit 2001 in den Universal Studios von Hollywood gedrehte amerikanischen Action- und Agentenfilmserie The Fast and the Furious (Regie Justin Lin), in der es unter anderem um Street Racings und um neue Modelle der Tuningszene geht. In der actionreiche Geschichte verschafft sich der Protagonist, der Undercover-Cop Brian O‘Connor Zugang zur illegalen Straßenrennszene, nimmt an verbotenen Rennen teil, verliebt sich in die Schwester des Anführers der Gang… und gerät in Konflikt zwischen Faszination für die getunten Autos, die Sympathie für das Abenteuer und seine eigentlichen Mission, die Aufklärung der kriminellen Aktivitäten. So bekommt die Plastik Stefan Rohrers eine Geschichte, auf die man im Titel verwiesen ist.
Es geht nicht um Kritik des filmischen Niveaus dieser Serie von Kinofilmen, aber vielleicht klingt in dieser wie in vielen Arbeiten noch nach, wie Stefan Rohrer zu Thema Auto gekommen ist und was daraus in den Kunstwerken geworden ist. In allen Texten über seine Arbeiten wird berichtet über seine Faszination für das Automobil, für Sport- und Rennwagen, die ihn als Kind zu dem Berufswunsch Autodesigner brachte. Die gesellschaftliche, ökologische Kritik und die damit einhergehende Skepsis, die künstlerische Ausbildung an der Akademie ließen die Faszination für das Autos, für das Abenteuer der Geschwindigkeit nicht ganz verschwinden. Aber die Debatte gaben ihr einen wesentlichen Dreh und eine kritische Sicht auf die Kulmination in der Katastrophe, auf den kritischen Moment des Kontrollverlusts, und die dann waltenden Kräfte sind umgesetzt in seinem bildhauerischen Interesse an Bewegung, an der Erfahrung und Darstellung von Zeit, an der künstlerischen Methode der Dekonstruktion, die andere Dimensionen der Bedeutung der Motive und das grundsätzliche Thema der Bewegung in der Kunst und Bildhauerei in den Vordergrund bringen. Jede der Plastiken Stefan Rohrers hat einen narrativen Hintergrund, der sich zum Beispiel in den Bezügen zu bestimmten Filmen eröffnen kann. Jedes Automodell ist bewusst gewählt und hat eine Geschichte, ist ein Mythos, hat einen Fetischcharakter, der in der Ästhetik der Arbeiten eine Rolle spielt. Gerade in den Sportwagen verheißt schon die bloße Form und ihre Lackierung Schnelligkeit, eine hedonistische Haltung zur Mobilität, einen sozialen Status für den Besitzer und ist verbunden mit der Faszination von Form und Technik, Kraft und Gewalt, aufgeladen mit dem Potential für Rennen als Teil eines meist deutlich vorgetragenen Männlichkeitskultes, in dem es an sexuellen Projektionen nicht mangelt. Und es gibt eine reiche Kultur- und Kunstgeschichte der Geschwindigkeit und des Automobils.2 In der Ästhetik seiner Plastiken lässt Stefan Rohrer all diese Implikationen mitspielen und nimmt für sich einen Spielraum in Anspruch, der sich durch moralische Wertungen und ethische Überlegungen nicht einengen lässt. Nirgends finden wir geschädigte, verletzte Personen, keinen explizit erhobenen moralischen Zeigefinger. Das ermöglicht eine viel differenziertere Wahrnehmung, die nicht nur die unmittelbare visuelle Sensation im Blick hat, sondern auch die Reflexion dieser Wahrnehmung, die die Selbstbehauptung des beobachtenden Betrachters im Blick hat. Jede Front des Automobils ist wie ein Gesicht, das in den Plastiken von Stefan Rohrer zur extremen Grimasse wird, in der sich Emotionen, Schmerz und Lust finden lassen, je nach Interesse und Empfinden des Betrachters. Grimassen werden geschnitten, um den anderen zu erschrecken und zum Lachen zu bringen. Zur faszinierende Seiten gehört die Ästhetik des Geschwindigkeitsrauschs, die Lust der Grenzerfahrung, und die provozierende, obszöne Seite bekommt Gestalt in dem Unfall, in der Katastrophe, wo der Kontrollverlust offenbar wird und die Physiognomie des Autos, sein Design sich zerlegt und zur Groteske, zur Grimasse des Sensationellen wird, als Unheil faszinierend, und das uns zugleich erschaudern lässt, neugierig macht und vielleicht auch zum Lachen bringt.
In Super Sprint (2019) windet sich die Bewegung eines Motorrads, einer im Kawasaki-Grün lackierten, auf Hochleistung frisierten kleinen Rennmaschine mit extremer Dehnung in seiner Vorwärtsbewegung. Die Bewegung schwingt nach links und rechts und dehnt sich entlang einer schwungvollen S-förmigen Ideallinie, wie man sich das als letztlich doch übersteuertes Kurvenfahren vorstellen kann. Wie in allen Plastiken von Stefan Rohrer geht es um Bewegung. Die S-förmige Schlangenlinie ist eine Form, diese auszudrücken. In der Kunst, besonders in der Bildhauerei ist die Darstellung, die Imagination der Bewegung seit der Antike ein wesentliches ästhetisches Moment in der an sich starren Ruhe des Kunstwerks. Sie gehört zur Rhetorik des Bildes, die unsere Vorstellungskraft in Bewegung bringt und den Augenblick zu einem Moment in einer Geschichte werden lässt. Und die geschwungene Bewegung ist ein Teil dessen, was als besonderer Reiz, als Schönheit und Eleganz im Innern eines Kunstwerkes auszumachen ist. In seiner Analyse der Schönheit3 verweist der englische Künstler William Hogarth auf eine Regel Michelangelos, der dem Maler Marco da Siena, seinem Schüler, die folgende Mitteilung gemacht haben soll: „Er solle stets eine Figur pyramidenförmig, schlangenförmig und vervielfältigt mit eins, zwei und drei darstellen. In dieser Regel liegt nach meiner Meinung (Hogarth) das ganze Geheimnis der Kunst. Denn die größte Grazie und das edelste Leben, das ein Gemälde haben kann, besteht darin, dass es Bewegung ausdrückt: das nennen die Maler den Geist des Bildes.“4 Und an anderer Stelle beschreibt William Hogarth sein Vorhaben, „die besondere Stärke jedes einzelnen Prinzips in solchen Werken der Natur und Kunst zu zeigen, die das Auge am meisten zu vergnügen und zu unterhalten scheinen und jene Grazie und Schönheit hervorbringen… Die Prinzipien, die ich meine, sind Zweckmäßigkeit, Vielfalt, Gleichförmigkeit, Einfachheit, Verwicklung und Größe – sie alle wirken bei der Hervorbringung von Schönheit zusammen, indem sie sich wechselseitig berichtigen und gelegentlich einander einschränken.“ 5 Man kann diese Prinzipien auf das Design der Fahrzeuge und die Kunstwerke Stefan Rohrers anwenden, auch wenn er wohl nicht an die Abhandlung William Hogarths gedacht haben mag. In dem Nachsatz von William Hogarth deutet sich die Skepsis und Ironie und eine Distanz zur Kunsttheorie an, die auch Stefan Rohrer in seinen Werken mitklingen lässt. Beide Künstlern sind in ihrer realistischen Aufnahme ihrer Motive und mit ihren Mitteln der Verzerrung und kritischen Verfremdung nahe an der Satire, dem Makabren und an der Fratze, die uns die Realität auch entgegenhält.
In den Wandarbeiten mit den Modellautos hat Stefan Rohrer einen deutlich erweiterten Spielraum für seine plastischen Bilder für Bewegung, Raum und Zeit. In den Dimensionen von Modellen lassen sich Vorstellungen und die Umsetzungen von Ideen relativ großräumiger und exzessiver umsetzen. Mit dem Titel Bullitt (2019) ist als Erzählung angespielt auf den dramatischen Kriminalfilm Bullitt von 1968 (Regie Peter Yates) mit Steve McQueen in der Hauptrolle. Darin gibt es eine legendäre Hochgeschwindigkeits-Verfolgungsjagd zwischen Bullitt (Steve McQueen) in einem dunkelgrünen Ford Mustang und den auf ihn angesetzten Killern in einem schwarzen Dodge Charger durch die Straßen von San Franzisco. In diesem Rennen auf Leben und Tod beschleunigen und bewegen sich die Fahrzeuge extrem, verfolgen einander mit Höchstgeschwindigkeit, berühren sich und am Ende drängt Bullitt mit seinem Ford Mustang den Dodge Charger der Killer von der Straße. Dessen Fahrer verliert die Kontrolle über sein Fahrzeug, rast in eine Tankstelle, und diese und mit ihr das Fahrzeug explodieren auf spektakuläre Weise. Bullitt bringt seinen schwer beschädigten Ford Mustang nur mit Mühe zum Stehen. In der Wandarbeit Stefan Rohrers ist die Dramatik des Rennens in ein Bild gefasst: die extreme Beschleunigung, die übersteuerte Geschwindigkeit in dem Looping, die Berührungen der Fahrzeuge und wie in die eine Richtung die Motoren und in die andere Einzelteile und die Fahrer, einer mit ausgebreiteten Armen, der andere mit verschränkten Armen als Gestus der Souveränität des Siegers, aus den Fahrzeugen herauskatapultiert werden. Der verheerende Crash, die Katastrophe, die Auflösung der Fahrzeuge ist als Moment ebenso enthalten wie die dramatische Verfolgungsjagd, eine Zeitspanne des Dramas genauso wie das abrupte Ende. Stefan Rohrer abstrahiert beides in seiner Formensprache der Bewegungsfigur. Die Bewegungen der schwarzen Fahrzeuge werden eins mit dem Asphalt der Straße, der Kontakt der Fahrzeuge und das freie Spiel der Fliehkräfte ist spürbar… Stefan Rohrers Arbeit erzählt gleichwohl nicht noch einmal die Handlung des Filmes. Es geht allein um die Geschwindigkeit, um die Kraft, die Energie und die Gewalt, um die Bewegung und deren Dynamik, mit der sich die beiden Fahrzeuge das Rennen liefern. Schönheit, Eleganz sind genauso im Spiel wie die das Erschaudern vor der todbringenden Gewalt, das auch zu der Szene gehört, was durch die Farben noch unterstützt wird. Aus der Distanz wirkt das ganze wie ein großer dynamischer Schwung. Bei näherem Hinsehen und mit Kenntnis der Szene aus dem Film kippt die Ästhetik der schönen, schwungvollen, arabesken Bewegung, und die Details geben dem Geschehen noch eine andere Interpretation.
In Capri gegen Manta (2018) schickt Stefan Rohrer die beiden unter Tuningfreunden populären Mittelklasse- Sportwagenmodelle und Konkurrenten der 1970er Jahre ins Rennen. Beide Autos sind Mythen. Der Ford Capri (gebaut von 1968–1986) war der europäische „Pony-Car“ zum legendären amerikanischen Ford Mustang, ein charakteristischer Sportwagen des kleinen Mannes mit seiner langgezogenen Motorhaube und kurzem Heck. Der Opel Manta wurde in Deutschland (1970–1988) gebaut und war in ähnlichem Design die Antwort von General Motors für den europäischen Markt. Beide sind 2016 in der Briemarkenserie Klassische Deutsche Automobile zu finden, der Ford Capri mit 70 Cent und der Opel Manta mit 90 Cent. In Stefan Rohrers Wandarbeit sind der Opel Manta grün und der Ford Capri gelb lackiert, die klassischen Farben wie auf den Briefmarken, nur umgekehrt und austauschbar. Beide Sportwagen versprachen viele technische Möglichkeiten und das Bild des getunten, straßentauglichen Pseudo-Rennwagens - typische Männerautos. Mehr noch als der Ford Capri ist der Opel Manta nicht nur ein Mythos, sondern auch ein stark klischeebehaftetes Kultfahrzeug. Manta-Fahrer galten, unterstützt von Filmen und Schlagern, als beschränkte Tuningliebhaber mit niedrigem Bildungsniveau und einem eher lächerlichen Machogehabe, was den Verkaufszahlen von über einer Million produzierten Fahrzeugen für die Modellreihen A und B keinen Abbruch tat. Während der gelbe Ford Capri, geziert mit dunklem Rallyestreifen, mit einem Power Slide in das Wettrennen driftet, geht der grüne Opel Manta mit weißem Rallyestreifen gerade ins Rennen und nach einem Looping endet auch diese Begegnung - leichtläufiger und ohne diese Ausdruck von Gewalt wie bei Bullitt - ebenso in der durch Berührung ausgelösten Katastrophe der Auflösung in gegensätzliche Richtungen. Man schmunzelt und weiß die Ironie und den freundlichen Humor in diesem Wettbewerb zu schätzen.
Stefan Rohrer macht sich seine Passion für besondere Automobile und Motorräder zum Thema, um an ihnen sich mit wesentlichen Themen und Fragestellungen der gegenwärtigen Kunst auseinander zu setzen. Bewegung wird zur plastischen Form und als ästhetische Dialektik im Wechselspiel von Bewegung und Erstarrung begriffen. Beschleunigung und Verlangsamung wird im Begriff der Zeit zum eigentlichen Thema. Gravitative Zeitdilatation beschreibt ein Phänomen der allgemeinen Relativitätstheorie, den Effekt, dass alle Prozesse in einem stärkeren Gravitationsfeld langsamer verlaufen als in einem schwächeren, und dass alle inneren Prozesse eines physikalischen Systems relativ zum Beobachter langsamer ablaufen, wenn sich dieses System relativ zum Beobachter bewegt. In der Literaturwissenschaft ist Zeitdilatation ein Begriff der Zeitgestaltung, bei dem die Erzählzeit länger ist als die erzählte Zeit, wenn die Handlung stark gedehnt, quasi in Zeitlupe erlebt wird, wenn die innere Uhr des Geschehens anders tickt, beschleunigt wird im Zeitraffereffekt oder als erlebte Zeit entschleunigt ist, und das Geschehen sich wie in Zeitlupe zieht. In der Biologie meint Dilatation die Neubildung von Gewebe und in der Medizin wird mit Dilatation die Erweiterung von Organen und Gefäßen als pathologisches Phänomen beschrieben. In dem plastischen Geschehen in Stefan Rohrers Werken ist all dies in den Ausdruck von Bewegung, deren Dynamik und dekonstruktive Erscheinung einbeschrieben. Damit kann sich die Wahrnehmung und das Erleben von Zeit nicht mehr objektiv an der gleichmäßigen Zeitmessung der Uhr orientieren, sondern das Erleben und der Begriff von Zeit gewinnt in Bildern wie den Plastiken von Stefan Rohrer zwar Gestalt, um sich dann als komplexes Phänomen einer Erklärbarkeit und der geistigen und physischen Kontrolle letztlich zu entziehen. Und da wird das Faszinosum der Geschwindigkeit als eigentliches Thema greifbar, der Schock des extremen Wechsels zwischen Bewegung und Erstarrung, des Effekts der Dehnung in Zeitlupe und der Verdichtung im Zeitraffer. In den Arbeiten wird die Dynamik dieses Moments, der dies alles einbezieht, eingefroren. Dabei bleibt für die Wahrnehmung offen, „wo das jetzt anfängt und wo es aufhört“ 6. „Denken heißt überschreiten“ hat Ernst Bloch formuliert 7, und Stefan Rohrer überschreitet in der Dynamik und Perspektiven des Bewegungsmoments seiner Plastiken die vertrauten mathematischen, geometrisch konstruierten Vorstellungen von Zeit und Raum. In den Mitteln der Verzerrung und Verfremdung verfängt sich die emotionale, subjektive Wirkung seiner Plastiken. Als Delirium lässt sich das Chaos, die Verwirrung begreifen, die Orientierungslosigkeit, die dem Interesse des Künstlers an dem Kontrollverlust und der entsprechenden Sprengung und Kontingenz der Form entspricht.
Das lässt sich als den schön schaurigen Schrecken über die zerstörerischen Kräfte und die überschießende Gewalt der Kräfte interpretieren. Doch der Humor des Künstlers spielt eine mindestens genauso große Rolle in der Wahrnehmung seiner Plastiken. So macht er mit den Bewegungslinien ästhetische Anleihen bei Comiczeichnungen, die nicht nur in stehenden Bildern eine Geschichte erzählen. Comic als Adjektiv meint drollig, komisch… und die Bewegungslinien, die Übertreibungen und Verzerrung der Extreme, die anthropomorphe Sicht der tierischen oder gegenständlichen Protagonisten begründen die Wahrnehmung des komischen Gehalts der Darstellungen. Schon das dekonstruktive Moment Stefan Rohrers Plastiken hat eine komische Seite, dazu die Improvisation, wie er die Dynamik zum Ausdruck bringt, die Übertreibung, die konstitutive Ironie der Plastiken, wie er mit der Ungewissheit und der schwebenden Realität in seinen Plastiken spielt, der Umgang mit dem Möglichen und Unmöglichen, die Skepsis, der ständige Zweifel an der Wahrheit, die Groteske, wie die Bewegung zur Arabeske und zum Ornament der Bewegung wird. Zum Komischen gehört die Inkongruenz zwischen Pathos und den Affekten, die seine Plastiken auch als ein kynisches Einspruch Erheben gegen die Fetischisierung von Automobilen, von Geschwindigkeit, Dynamik, Kraft, Gewalt und darin sich manifestierender Männlichkeit erscheinen lassen.
… – und zurück: Wenn auch die Faszination des Designs legendärer Autos und Motorräder ihre Daseinsberechtigung behält, die Faszination des Rauschs der Geschwindigkeit, der Beschleunigung, der Übersteuerung, selbst die Grimasse des Deliriums des Kontrollverlustes, der Katastrophe. Berührt und betroffen ahnen wir: Wir sind nur Beobachter, wir sind noch einmal davongekommen, mit dem Schrecken und dem Lachen, die für die Katharsis in der Tragikomödie stehen.
1 | Vergl. Die Unfallfotografien von Arnold Odermatt, die im Kunstkontext über ihre dokumentarische Funktion als Polizeifotografie für den unbeteiligten Betrachter durch ihre Perspektive auf ihre unfreiwillige Komik zu Kunstwerken werden. Sie nehmen durch die Abwesenheit von beteiligten Personen der Katastrophe ihre tragische Dimension und zeigen die Destruktion des normalen und zweckmäßigen Verkehrs und die skulpturalen Qualitäten in der Deformation der Fahrzeuge, auch und für die Augen eines distanzierten Betrachters mit ihrer komischen, grotesken Seite. |
2 | Vergl. Sebastian Steinhäusser: „Nur Fliegen ist schöner“ – Stefan Rohrer und der Mythos der Geschwindigkeit. In: Pfalzgalerie Kaiserslautern u.a. (Hrsg.) Stefan Rohrer. Drehmomente. Schleudertrauma. Wienand Verlag Köln 2014, S. 107-119. |
3 | William Hogarth: The Analysis of Beauty (Analyse der Schönheit), London 1753, aus dem Englischen von Jörg Heininger, mit einem Nachwort von Peter Bexte, Hamburg 2008 |
4 | Vergl. ebenda S. 14 |
5 | Vergl. ebenda S. 44f |
6 | Vergl. Sebastian Steinhäusser: Entfesselte Bewegung, in: Kuenstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst. Stefan Rohrer, Ausgabe 107, Heft 21, 3. Quartal 2014, S. 2 |
7 | Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Teil 1, Vorwort, Frankfurt a.M. 1959, S. 3. |
Der Lauf der Zeit in den filmischen Arbeiten von Stefan Rohrer
Melanie Ardjah
In den Filmen von Stefan Rohrer spielt die Zeit, genauer die Parallelität verschiedener Zeitebenen, eine essentielle Rolle. Fassen seine großformatigen Skulpturen und plastischen Wandarbeiten einzelne Momente innerhalb eines Bewegungsablaufes in ein Bild und erzählen damit einen ganzen Handlungsstrang, so spielt Stefan Rohrer in seinen Videos mit der Zeit – er verlangsamt sie oder beschleunigt sie und stellt die Frage danach, was erlebte Zeit und reale Zeit ist.
Im Film Klavierstunde (2006) erlebt der Betrachter eine Zeitebene. Es ist die erste Klavierstunde, die der Künstler nach 25 Jahren bei seinem Vater, Hellmuth Rohrer, nimmt. Stefan Rohrer ist in einem musikalischen Elternhaus aufgewachsen. Er bekam als Kind für eine gewisse Zeit Klavierunterricht. Sein Vater spielte begeistert Klavier und sonntags Orgel in der Kirche. Seine Schwester genoss eine Ausbildung zur Sopranistin. Stefan Rohrer beschreibt, dass die Erwartung, auch er würde die Musik für sich entdecken, groß war, „aber nach einiger Zeit des Klavierunterrichts wuchs bei uns allen die Erkenntnis, dass dies nicht der Weg des großen Glückes sein würde“. 1
Die Filme des Künstlers haben autobiografische Bezüge und stoßen mit Ironie und leisem Humor Erzählungen an von Wünschen, Erwartungen, Rollenverhalten, Klischees, aber auch vom Scheitern. So ist und bleibt die Idee, ein Instrument zu beherrschen und als Musiker auf einer großen Bühne vor Publikum aufzutreten, ein Traum, der auch von dem grundlegenden Bedürfnis des Menschen nach Anerkennung und Bestätigung herrührt, das allem Tun zugrunde liegt. Mit seinem Können nach außen zu treten, seine Fähigkeiten und aber auch sein Innerstes Preis zu geben und dafür Bewunderung zu erhalten, hat eine besondere Qualität. Stefan Rohrers Film Klavierstunde lässt den Betrachter auf eine Klaviatur blicken. Er sieht in Aufsicht die Hände des Künstlers, die die einzelnen Tasten und damit Akkorde suchen. Stefan Rohrer spielt ein Stück aus einem Etüdenbuch für Anfänger. Der Vater befindet sich im Hintergrund. Nach und nach ist seine Stimme zu hören und auch seine Hände greifen ein, um den Sohn zu orientieren. Parallel ist ein Gespräch zu hören. Das Geschehen läuft in Echtzeit ab – die Klavierstunde dauert circa eine halbe Stunde.
In einer Zeit und Gesellschaft, in der die Selbstoptimierung von großer Wichtigkeit ist, ob in Fragen der Fähigkeiten oder Äußerlichkeiten, in der sich das Streben nach Anerkennung medial in ‚Likes‘ und ‚Followern‘ niederschlägt und messbar wird, geht Stefan Rohrer in seinen Filmen den Weg der musikalischen Selbstoptimierung. Er interpretiert Musikstücke mittels digitaler Bearbeitung und optimiert damit die eigenen Fertigkeiten bis er beispielsweise in Konzertreife Klavier spielen kann oder das hohe F in der Arie der Königin der Nacht erreicht. So interpretiert der Künstler Sergei Wassiljewitsch Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2 c-moll, op. 18. Stefan Rohrer spielte jeden Akkord einzeln ein und nahm dies filmisch in Bild und Ton auf, im zweiten Schritt fügte er am Rechner die Akkorde aneinander. So entstanden mehrere Zeitschienen im Film Stefan Rohrer spielt Rachmaninov (2008/2009): Die Zeit der Filmaufnahme, die mehrere Wochen dauerte, die Zeit des Schneidens des Films, das über zwei Monate in Anspruch nahm und die Zeit des Musikstücks von Rachmaninow – der Film hat eine Länge von 12:58 min.
Als Ergebnis sieht und hört der Betrachter Stefan Rohrer in seitlicher Ansicht am Klavier in Begleitung eines nicht sichtbaren großen Orchesters spielen. Seinem Klavierspiel hat er die Orchesterfassung des Klavierkonzerts von Rachmaninow hinzugefügt.
Das Bild ändert sich minimal – mal ist die Tageszeit eine andere, das Licht hat sich gewandelt oder die Körperhaltung des Künstlers erscheint verändert. Fein deutet sich Ironie an, wenn der Pianist am heimischen Klavier, auf dem zuweilen ein Kaffeebecher steht, im Schein der Tischlampe, in seiner Alltagskleidung im Wohnzimmer spielt, er aber eigentlich einen großen Konzertsaal füllen könnte. Pathos wird als Stilmittel eingesetzt und gleich durch die gegebenen Verhältnisse konterkariert.
Das Stilmittel der Groteske taucht in vielen filmischen Werken Stefan Rohrers auf, wenn der Künstler Klavierstücke oder Arien von hohem Schwierigkeitsgrad interpretiert oder in einer Doppelrolle einen Liederabend vorträgt, obwohl er weder ein Instrument ganz beherrscht, noch professionell singen kann. Stefan Rohrer verändert die Wirklichkeit, verzerrt und überzeichnet sie. Er legt den Charakter des „Gemachten“ oder „Gebastelten“ aber offen. Es ist augenscheinlich, dass er sich Fähigkeiten nur technisch aneignet. Dies wird vom ersten Moment des Betrachtens seiner Filme deutlich – irgendetwas geht nicht mit rechten Dingen zu. So mutet sein Klavierspiel abgehakt an und sein Gesang in der Rolle der Königin der Nacht klingt seltsam hoch und schrill. Zugleich erscheinen seine Filme nicht in hochaufgelöster Technik, wie sie heute zeitgemäß sind. Das Auge ist satte Farben und perfekt scharfe Bilder gewohnt, die jede Nuance, jede Feinheit der einzelnen Oberflächen, Materialien und Stofflichkeiten wiedergeben. Die Filme des Künstlers zeigen ein grobkörniges Bild. In der Ausstellung in der Kunsthalle Göppingen sind drei seiner Filme in Monitoren zu sehen, die Videos Liederabend (2010) und Air (2018) werden auf die Wand projiziert. Der Charakter des Gebauten und Gebastelten soll auch hier nicht vertuscht werden, sondern sichtbar sein.
In dem Video Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen (2006) singt Stefan Rohrer die Arie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte. Eine Arie, die für ihren Schwierigkeitsgrad bekannt ist. Der Künstler betont mit einem Augenzwinkern,2 dass er sich diese Arie aussuchte, weil seine Schwester sie nicht beherrscht, wie auch sein Vater, das Klavierkonzert von Rachmaninow wegen des hohen Schwierigkeitsgrades nicht spielen kann. Im Film steht Stefan Rohrer aufrecht im Zentrum des Bildes in der Sichel eines Mondes, genauer im legendären Bühnenbild von Karl Friedrich Schinkel von 1816, in dem die Sterne sich geordnet in Reih und Glied am Himmelszelt befinden. Das etwa dreistündige Werk zählt zu den weltweit bekanntesten und am häufigsten inszenierten Opern. In Mozarts Zauberflöte verkörpert die Königin der Nacht die dunkle Gegenspielerin des Fürsten Sarastro. Die Arie Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen wird oft als die Rachearie bezeichnet. Die Arie ist Teil des 2. Akts der Zauberflöte. Von Rachsucht getrieben, gibt die Königin der Nacht ihrer Tochter Pamina ein Messer und trägt ihr auf, ihren Rivalen Sarastro zu ermorden. Andernfalls verstoße und verlasse sie ihre Tochter Pamina. Stefan Rohrer singt die Arie mit angestrengter Mimik begleitet von klassischen Operngesten. Um den höchsten Ton zu erreichen, hat Stefan Rohrer die Arie langsam gesungen und den Film dann entsprechend schneller laufen gelassen, um das hohe F zu erreichen. Das erste Bild des Filmes zeigt den Künstler frontal im Porträt. Ernst und getragen und dem Inhalt der Arie gerecht werdend, agiert Stefan Rohrer. Er wählt einen klaren und einprägsamen Bildausschnitt, wie in allen seinen Filmen. So auch im Video Air, das die Eingangstüren der Kunsthalle Göppingen zeigt und Teile der weißen Fassade des Museums, vor das sich Stefan Rohrer in schwarzer Kleidung positioniert. Der Film ist in der Kunsthalle Göppingen entstanden und hat die aktuelle Geschichte des Hauses zum Thema. Stefan Rohrer spielt Bachs Air aus der Suite Nr. 3 in D-Dur von Johann Sebastian Bach vor der Kunsthalle Göppingen auf der Geige. Die Kuratoren kommen und gehen. Der Künstler wählte das Stück Air, da es die leicht melancholische Stimmung von Abschied und Aufbruch wiedergibt. Während der Aufnahme des Filmes, die einen Tag dauerte, spielte Stefan Rohrer nur einen Ton auf der Geige. Durch schnelleres und langsameres Abspielen des Films kann er die Melodie dann am Computer spielen. Es sind vier Filme: erste Geige, zweite Geige, Bratsche und Cello. Diese vier Filme hat Stefan Rohrer am Computer übereinander gelegt und so spielt er Bachs Air vierstimmig. In der Ausstellung in der Kunsthalle Göppingen breitet sich die Musik im Raum aus und verbindet sich auf besondere Weise mit den Skulpturen des Künstlers und schafft dadurch eine nahezu melancholische, sakrale Atmosphäre.
Das Video Liederabend (2010) wird innerhalb der Ausstellung als Projektion im Raum C1 gezeigt. In einem Raum für sich entfaltet der Film die Stimmung eines musikalischen Abends, dem man als Zuhörer beiwohnt. Drei Stücke tragen ein Pianist am Flügel und ein Sänger vor – Stefan Rohrer agiert in zwei Rollen und damit in zwei Filmen, ein Schnitt vertikal durch das Bild zeigt dies.
Der Liederabend hat seinen Ursprung im 19. Jahrhundert. Um 1816 musizierte Franz Schubert beispielsweise im Freundeskreis, der aus jüngeren Menschen des Bürgertums bestand. Bei sogenannten Schubertiaden, musikalischen Abenden, wurden Schuberts neueste Kompositionen vorgetragen.3 Stefan Rohrer wählt für seinen Liederabend Stücke von Franz Schubert, dabei das Lied Der Tod und das Mädchen von 1817, das thematisch dem Erlkönig nahe ist. Darin lädt der Tod das Mädchen ein in seinen Armen einzuschlafen. Stefan Rohrer fügte digital die einzelnen Akkorde seines Klavierspiels aneinander, so dass er das Lied im Film flüssig spielen kann. Sein Gesang ertönt in der Rolle des Mädchens hoch, die Stimme des Todes ist düster und tief.
In jedem der drei Lieder ist der Schauplatz ein Raum in dem ein schwarzer Flügel und ein Hocker stehen, zwei Fenster lassen Tageslicht hinein. Stefan Rohrer wählte immer wieder verschiedene Perspektiven – mal eine Totale, die beide Protagonisten zeigt oder nur ein Ausschnitt, der den Flügel und die Klaviatur in den Blick nimmt.
Während der Lieder ändert sich durch das Fortschreiten der Zeit das Licht im Raum, das morgendliche Licht, die Morgenröte dringt hinein bis es dämmert und dunkel wird. Ein langer Zeitablauf wird suggeriert.
Pianist und Sänger treten zusammen auf. Scheinen aufeinander abgestimmt, obwohl sich ihre Blicke nie treffen. Beide nehmen den anderen wahr und scheinen Kontakt zu suchen. Die Momente in denen der Klavierspieler nach dem Ende des Liedes aus dem Fenster blickt und der Sänger seinen Blick zu suchen scheint, sind auf stille Weise ironisch und humorvoll. Beide Künstler sind in ihrem Tun verwurzelt und haben ihr Spiel, ihren Gesang verinnerlicht. Ernsthaft trägt der Sänger mit hoher, zarter Mädchenstimme vor, die nicht zu seinem Erscheinungsbild passen will, begleitet von klassischen Gesten, wenn er sich am Flügel festhält. Der Pianist ist in sein Spiel vertieft, die zunehmende Dunkelheit beeinträchtigt ihn nicht. Am Ende von Der Tod und das Mädchen wird sein Spiel immer schwerer und langsamer und sein Kopf hält er tief geneigt. Stefan Rohrer nimmt sich dem bürgerlichen Liederabend auf parodistische Weise an. Er überzeichnet die Ernsthaftigkeit des Vortrags, die Theatralik und das Pathos. Aber er setzt dies mit großer Liebe und Kenntnis für die Musik um und für das Ereignis des Vortrags.
Die Zeit kann in Stefan Rohrers Filmen schneller voranschreiten, der Zeitraffer gibt einen langen Zeitablauf vor, um die Länge eines Liederabends zu betonen oder die Dauer, der man als Zuhörender vielleicht auch ausgesetzt ist. Das Fortschreiten der Zeit abzubilden, ist seit je her ein großes Thema in der Kunstgeschichte. Motive wie eine erloschene Kerze, Sanduhren, Spiegel oder Totenschädel waren in Gemälden des Barock ein Verweis auf Eitelkeit und Vergänglichkeit. Der Gedanke des Memento mori kam seit dem 15. Jahrhundert auf und fand vor allem in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts in Prunkstillleben mit Vanitasallegorien Verwendung. Im 19. und 20. Jahrhundert tauchen Vanitasmotive auf, um die persönliche Situation des Künstlers oder eine Zeitstimmung zu betonen, wie beispielsweise das Gemälde Skelett, chinesische Bilder betrachtend (1885) von James Ensor. 4
In der zeitgenössischen Kunst, insbesondere in der Videokunst, wird der Zeitraffer zum Mittel das Fortschreiten der Zeit abzubilden. Sam Taylor-Wood lässt in ihrem Film Still Life (2001) das Stillleben eines prächtigen Obstarrangements vergehen. Die an Carravagio erinnernden Früchte verwandeln sich im Zeitraffer in eine verrottete Masse. In einer Endlosschleife sieht der Betrachter immer von neuem das frische Obst, den Beginn von allem, der dem Lauf der Zeit ausgesetzt wird. 5
Stefan Rohrer verbindet in seinen Arbeiten – seinen Skulpturen wie auch in seinen Filmen – verschiedene Zeitebenen, er relativiert die Zeit. In den Filmen finden unterschiedliche Vorstellungen von Zeit zueinander: Die Zeit des Filmdrehs, die Echtzeit, die Zeit, die der Film dauert. Zeit läuft in seinen Videos langsamer, wenn der Künstler mit tiefer Stimme in der Rolle des Todes singt oder schneller wie in Mignons Lied in Liederabend, wenn der Künstler die hohe Stimmlage eines Mädchens annimmt. In Air gehen die Kuratoren mal schneller, mal langsamer, vorwärts oder auch rückwärts in das Museum und aus ihm heraus. Mal gibt es ein Verharren an der Tür, mal bewegt sich eine Figur schnell und schemenhaft und damit fast unbemerkt für das Auge. Der Zeitverlauf scheint damit teilweise in der Schwebe befindlich. Das Vergehen der Zeit wird auf subtile Weise wahrnehmbar in den Filmen Stefan Rohrers. Er verdeutlicht, wie unterschiedlich Zeit wahrgenommen werden kann, wie subjektiv das Empfinden und der Fluss der Zeit ist.
1 | Im Gespräch mit dem Künstler am 21.05.2019. |
2 | Ebd. |
3 | Vgl. Stanley Sadie und Alison Latham (Hrsg.), Das Zeitalter der Romantik. In: Das Cambridge Buch der Musik, Frankfurt 1994, S. 322–338. |
4 | Vgl. Lexikon der Kunst, Zwölfter Band, Erlangen 1994, S. 90. |
5 | Vgl. TJ Demos, Eine Frage der Zeit. In: Kulturmagazin Du, Ausgabe 783, Februar 2008, S. 54–56. |